Bi – Aktuelle Themen

EU: Kein generelles Provisionsverbot, aber viele neue Baustellen

Die Europäische Kommission hat am 24.05. ihren mit Unruhe erwarteten Gesetzesentwurf für eine EU-Kleinanlegerstrategie (Retail Investment Strategy) vorgelegt (vgl. 'Bi' 08/23, 15/23, 20/23). Eigentlich soll diese als ein zentrales Element der europäischen Kapitalmarktunion darauf abzielen, das Vertrauen in die Märkte zu stärken und insbesondere Investitionen von Kleinanlegern zu fördern. Zuerst die gute Nachricht: Die EU-Kommission verzichtet bei der Umsetzung ihrer sog. Kleinanlegerstrategie auf ein generelles Provisionsverbot, da dieses "zu disruptiv" wäre. Aber nun die schlechte: Die Kommission hat am Mittwoch in Brüssel trotzdem einen ganzen Rattenschwanz an Änderungen und Verschärfungen im Bereich Retail-Kunden vorgelegt. Allein die neuen EU-Gesetzestexte umfassen knapp 145 Seiten mit unzähligen Paragraphen. In seinem Eingangsstatement auf der Pressekonferenz am Mittwoch in Brüssel äußerte sich Kommissions-Vizepräsident Valdis Dombrovskis wie folgt zu den Intentionen der EU: Es stelle sich die Frage, "warum Europa nicht die entsprechende Investitionskultur auf privater Ebene wie in anderen Ländern" habe. Und "warum nutzen Kleinanleger nicht in vollem Umfang die Kapitalmärkte aus?" Dombrovskis machte verschiedene Gründe und Problembereiche aus Sicht der EU-Kommission dafür verantwortlich: Menschen bekämen nicht "immer den 'besten Deal' angeboten, also das entsprechende value for money". Einige Investmentprodukte seien mit "übermäßig hohen Kosten verbunden" und "Investoren könnten unterschiedliche maßgeschneiderte Produkte zu günstigeren Preisen bekommen". Auch die Information "ist oft sehr komplex, deshalb ist es schwierig für den Kleinanleger, die Finanzprodukte zu verstehen und diese miteinander zu vergleichen".  

Spätestens an dieser Stelle wird wieder deutlich, wie sehr die Brüsseler Bürokraten im eigenen Saft kochen. Die Antwort der EU-Kommission auf die an vielen Stellen selbst geschaffene Komplexität im Retailgeschäft lautet: Mehr Komplexität! Auch EU-Kommissarin Mairead McGuinness, zuständig für Finanzdienstleistungen, Finanzstabilität und die Kapitalmarktunion, machte am Mittwoch klar, dass man regulatorisch erneut 'in die Vollen' geht: "Dies ist der ehrgeizigste Legislativvorschlag seit Einführung der EU-Finanzregulierung. Er soll sicherstellen, dass der Finanzrahmen die Interessen der Kleinanleger berücksichtigt. Die Initiative trägt allen Phasen des Investitionsprozesses und allen Sektoren der EU-Kapitalmärkte Rechnung, und es wird ein umfassender Rahmen vorgeschlagen, der die EU-Bürgerinnen und -Bürger bei ihren Investitionsentscheidungen unterstützen soll. Wir wollen die europäischen Bürgerinnen und Bürger ermutigen, ihr Geld für sich arbeiten zu lassen, indem sie einen Teil ihrer Ersparnisse investieren. Die Europäerinnen und Europäer sparen viel, investieren aber weniger, und diese Strategie für Kleinanleger zielt darauf ab, das Investitionspotenzial von Ersparnissen zu erschließen."

Zur 'Ermutigung' hat die Kommission nun einen Rundumschlag vorbereitet. Das vorgelegte Paket hat einen weit gefassten Anwendungsbereich und berücksichtigt den gesamten Investitionsprozess auf Verbraucherseite. Es besteht aus einer Änderungsrichtlinie, mit der die bestehenden Vorschriften der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID II), der Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD), der Richtlinie über Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW), der Richtlinie über die Verwalter alternativer Investmentfonds (AIFMD) und der Richtlinie über die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) überarbeitet werden, sowie aus einer Änderungsverordnung, mit der die Verordnung über Anlageprodukte für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukte (PRIIP) überarbeitet wird.

Wo sind nun – neben der immer weiter ansteigenden Komplexität – die wichtigsten Knackpunkte?  ++ Aus deutscher Sicht enthält die 'Kleinanlegerstrategie' eine besonders widersinnige Regelung: Sofern der Versicherungsvertrieb sich als 'unabhängig' bezeichnet, soll er keine Provisionen – also wohl auch Courtagen – mehr annehmen dürfen. Unabhängige Versicherungsvermittlung wird bestraft, abhängige nicht  ++ Weiten Auslegungsspielraum dürfte nach wie vor der Begriff 'execution-only' darstellen. Denn hier soll ebenfalls ein Provisionsverbot greifen mit ggf. weitreichenden Auswirkungen, je nachdem, wie die EU den Begriff des beratungsfreien Geschäfts definiert. Laut Gesetzestext gehe es um "eine Maßnahme, die darauf abzielt, die Zahlung von Vergütungen in reinen Ausführungsumgebungen, in denen keine Beratung erfolgt, zu verbieten" ("a measure aimed at prohibiting the payment of inducements in execution-only environments where no advice is provided"). In den aktuellen Q&A der Kommission führt diese dazu weiter aus: (Übersetzung durch 'Bi'): "Mit dem Paket wird ein Verbot für nicht beratungsgestützte Verkäufe (non-advised sales) eingeführt. Dies bedeutet, dass ein Vertriebsunternehmen keine Provisionen annehmen darf, wenn ein Kleinanleger ein Anlageprodukt kauft, ohne vom Vertriebsunternehmen beraten worden zu sein. Nimmt ein Kleinanleger beispielsweise Kontakt mit der Bank auf und tätigt eine Anlage, nachdem er eine persönliche Empfehlung erhalten hat, sind Provisionen erlaubt. Wenn der Kleinanleger stattdessen eine Anlage über die Website der Bank tätigt und ein Produkt ohne vorherige persönliche Empfehlung auswählt, ist die Zahlung von Provisionen nicht zulässig."

Entsprechend gemischt sind die Reaktionen: "Für die deutschen Banken und Sparkassen ist es ein wichtiges Signal, dass die EU-Kommission von ihrer ursprünglichen Intention, ein vollständiges Provisionsverbot vorzuschlagen, abgesehen hat", so das Statement von BVR-Vorstandsmitglied Daniel Quinten für die Deutsche Kreditwirtschaft (DK). Ein solches Verbot hätte aus Sicht der EU-Kommission unabsehbare Folgen für Märkte und Verbraucher. "Kritisch zu sehen ist aber, dass die EU-Kommission ein Provisionsverbot für das in Deutschland weit verbreitete beratungsfreie Geschäft vorsehen möchte. Zudem schlägt sie eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen vor, die in ihrer Gesamtheit das Wertpapiergeschäft deutlich komplexer macht. Insgesamt würde der Gesetzesentwurf die ursprünglichen Ziele der Kommission nicht umsetzen. Diese waren, den Zugang von Kleinanlegern zum Kapitalmarkt zu vereinfachen, überflüssige Informationen abzuschaffen und die Prozesse effizienter und damit für Kleinanleger attraktiver zu gestalten." Auch Thomas Richter, Hauptgeschäftsführer des BVI, sieht in dem Vorschlag von Mairead McGuinness Licht und Schatten: "Gut ist, dass Kleinanlegern der Zugang zu einem breiten Beratungsangebot erhalten bleibt. So können sie weiterhin einfach von den Chancen der Kapitalmärkte profitieren und eine private Altersvorsorge aufbauen. Das Provisionsverbot im beratungsfreien Vertrieb lehnen wir jedoch ebenso ab, wie die zusätzlichen Anforderungen an die Provisionsberatung. Diese Maßnahmen werden den seit MiFID II ohnehin schon sehr hohen Anlegerschutz nicht weiter steigern."

'Bi'-Fazit: Gute Finanzmarktpolitik besteht auch darin, nicht immer neue Vorschriften auf bestehende Regulierungen draufzusatteln. Ein Befreiungsschlag wäre, das Regelwerk zu entschlacken oder zumindest auf unerwünschte Nebenwirkungen zu hinterfragen. Das ist meistens anspruchsvoll, wenn es überhaupt je stattfindet. Die EU-Kommission wundert sich, warum die Aktienkultur z. B. in den USA stärker ausgeprägt ist. Die Selbstreflexion reicht aber nicht so weit, um zu erkennen, dass die selbstgeschaffene Komplexität in der EU ein Grund ist. Immerhin hat die Kommission so viel Sachverstand gezeigt, ein generelles Provisionsverbot, das verheerend für Kleinanleger und deren Altersvorsorge wäre, abzulehnen. Damit ist die EU-Kommission der Verbraucherschutzlobby, die zwecks Ausweitung eigener 'Beratungsangebote' nach staatlichen Mitteln giert, nicht auf den Leim gegangen. Nach den zahlreichen Regulierungsschritten im Retail-Kundensegment in den letzten Jahren (Taping, PRIPPS, Nachhaltigkeit usw.) müssen nun die Beratungsprozesse erneut kostenintensiv angepasst werden. Ob das Beratungsangebot für Kleinanleger dadurch floriert bzw. einen Durchbruch erfährt, ist äußerst zweifelhaft.

Teilen Sie diese Neuigkeit in Ihrem Netzwerk