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BaFin schreibt sich mit Wohlverhaltens-Auslegung Gesetzgebungskompetenz zu

Strategisch gut orchestriert landet die BaFin am 27.08.2024 einen dreifachen Aufschlag. „Sorgen Sie für einen angemessenen Kundennutzen“, so die Überschrift der Rede von Julia Wiens, Exekutivdirektorin Versicherungs- und Pensionsfondsaufsicht, beim ‚Handelsblatt Strategiemeeting Lebensversicherung‘. „Lebensversicherungen müssen einen angemessenen Kundennutzen bieten“, titelt die Aufsicht die damit korrespondierende Pressemitteilung.

Dort wiederum wird auf einen Beitrag im BaFin-Journal hingewiesen: „Kundennutzen im Fokus“, kündigt die Headline an. Dabei bezieht sich die BaFin auf ihr ‚Merkblatt 01/2023 (VA) zu wohlverhaltensaufsichtlichen Aspekten bei kapitalbildenden Lebensversicherungsprodukten‘, das u. a. mit der ‚Delegierten Verordnung (EU) 2017/2358‘ korrespondiert. Die BaFin berichtet über aus ihrer Sicht nicht akzeptable Zustände und bspw. fragwürdige Rückvergütungen, die Fondsgesellschaften an die Vertriebspartner von Lebensversicherungsunternehmen zahlen, zusätzlich zu den Provisionen des Versicherers. „Den zusätzlichen Kosten steht kein angemessener Kundennutzen gegenüber (…) Solche Praktiken, die einseitig zu Lasten der Kundinnen und Kunden gehen, sind nicht akzeptabel“, so Wiens.

Das sei ein Missstand. Die BaFin habe sich speziell bei „fondsgebundenen Rentenversicherungen“ die „Effektivkosten, die Abschlussprovisionen und die Zahl der Stornos durch Kundinnen und Kunden“ angeschaut. Insbesondere „um Ausreißer zu identifizieren“. Das seien „vor allem die Unternehmen, die zum teuersten Viertel der Anbieter zählen“. Diese Lebensversicherer und ihre Produkte schaue die BaFin sich näher an, „bisher sind das 13 Unternehmen und weitere werden folgen“. Das bisher Festgestellte gefalle der BaFin „überhaupt nicht“. Die Produkthersteller hätten „zu prüfen, ob ihre Produkte einen angemessenen Kundennutzen schaffen“. Die BaFin schreite ein, „wenn sie hier Missstände feststellt (…), zum Beispiel, wenn die Effektivkosten viel zu hoch sind, was bei einigen Produkten der Fall ist“.

Der BaFin geht es um den Kundennutzen. Im Prinzip erwartet sie niedrigere Kosten und eine höhere Rendite. Sie nennt explizit die Abschlussprovisionen, was wohl kein Zufall ist. Daher erlauben wir uns an der Stelle auf zwei Sachverhalte hinzuweisen: Eine qualifizierte Beratung und Vermittlung liefert einen wichtigen Kundennutzen. Über diesen Mehrwert finden wir bei den BaFin-Ausführungen leider nichts. Und wenn die BaFin offensichtlich die Abschlussvergütungen einmal mehr als Renditekiller betrachtet, dann wird ‚übersehen‘, dass bei der Honorarvermittlung eine Vergütung anfällt, die offenbar aus der Renditebetrachtung der BaFin rausfällt, aber vom Kunden zu zahlen ist.

Doch damit zurück zu einer weiteren und höchst problematischen Ankündigung, Vorgehensweise und Erwartungshaltung der BaFin an Renten- und Lebensversicherungen. Die Versicherer müssten prüfen, ob „zumindest für diejenigen Versicherten das Renditeziel mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erreicht wird, die ihren Vertrag ab dem bereits genannten Zeitpunkt kündigen – also nachdem bereits die Hälfte der Kundinnen und Kunden ihren Vertrag vorzeitig beendet haben“. Nur dann könne „von einem angemessenen Kundennutzen des Produkts die Rede sein“, so Wiens.

Das halten wir aus zwei Gründen für höchst problematisch und falsch: Die BaFin führt einen weiteren Zielmarkt ein und die Besserstellung von Kündigern geht zu Lasten der vertragserfüllenden Kunden! Doch entsprechend Artikel 5 Nr. 1 DV (EU) 2017/2358 müssen die Versicherer für ein Produkt den Zielmarkt bestimmen. Bei fondsgebundenen Rentenversicherungen besteht der Zielmarkt üblicherweise aus Sparern, die mit zumeist langfristig laufenden Verträgen eine private Altersvorsorge aufbauen wollen. Die BaFin erweitert diesen Zielmarkt um Kündiger. Daher wollten wir von der Aufsicht wissen, auf Basis welcher rechtlichen Regelung die BaFin berechtigt ist, den von den Produktgebern definierten Zielmarkt zu verändern.

Die BaFin wolle „etwaige Missverständnisse klar- bzw. richtigstellen“, beginnt die Antwort der Aufsicht. „Ein angemessener Kundennutzen setzt nicht voraus, dass jede einzelne Kundin oder jeder einzelne Kunde einen Vorteil erwirbt. Vielmehr kommt es auf den Nutzen für den Zielmarkt insgesamt an. Neben einem Renditeziel müssen die Produkthersteller für den jeweiligen Zielmarkt auch Stornoerwartungen für die Ansparphase formulie­ren. Zu welchem Zeitpunkt ist zu erwarten, dass die Hälfte der Angehörigen des Zielmarkts ihre Verträge vorzeitig beenden? Für alle Angehörigen des Zielmarkts, die ihren Vertrag von diesem Zeitpunkt an kündigen, muss das frag­liche Versicherungsprodukt einen angemessenen Kundennutzen bieten. Andernfalls wäre das Produkt insgesamt für den Zielmarkt nicht geeignet. Bei den Prüfungen der BaFin sind Lebensversicherungsprodukte mit sehr hohen Stornoquoten aufgefallen. In einigen Fällen hatte die Hälfte der Kundinnen und Kunden ihren Vertrag bereits innerhalb der ersten Vertragsjahre beendet. Da die meisten Kosten in der frühen Phase der Vertragslaufzeit anfallen, wird die Mehrheit der Kundinnen und Kunden mit diesen Produkten (hohe) Verluste machen. Diese Produkte haben also keinen angemessenen Kundennutzen. Hohe Stornoquoten können darauf hinweisen, dass ein Produkt außerhalb des Zielmarktes vertrieben wird – und dem geht die BaFin nach. Denn im Rahmen ihrer Geschäftsorganisation müssen Versicherungsunternehmen sicherstellen, dass ihre Produkte an den Zielmarkt vertrieben werden.“

Wir haben eine andere Auffassung zum Zielmarkt: Wenn „die Hälfte der Kundinnen und Kunden ihren Vertrag bereits innerhalb der ersten Vertragsjahre beendet“, dann hat der Gesetzgeber mit Stornohaftungszeiten und Rückkaufswerten bereits Regelungen erlassen. Insbesondere deuten solche Frühstornoquoten darauf hin, dass es an einer qualifizierten Beratung hapert und am Zielmarkt des Produktes vorbei verkauft wird. Dem sollte die BaFin dann auch nachgehen! Doch sie fordert explizit eine höhere Rendite für Stornierer, wenn bereits die Hälfte der Verträge gekündigt ist, was im Regelfall als ‚Spätstorno‘ bezeichnet werden dürfte.

Abgesehen von dem (von Kunden zu tragenden) Kosten verursachenden bürokratischen Irrsinn, regel­mäßig für alle Produkte diesen Zeitpunkt zu bestimmen, ist das ein Torpedo für das wichtige gesellschaftspolitische Ziel zum Auf- und Ausbau der Altersvorsorge. Es sollte doch nicht darum gehen, späte Stornierer besserzustellen, sondern eher diese davon abzuhalten und weiter eine Altersvorsorge aufzubauen.

Doch wie verändern sich nach Kenntnis der BaFin die Ablaufleistungen für diejenigen, die den Vertrag vertragsgemäß bis zum Ende besparen, wenn zu Gunsten der Kündiger die Kostenverteilungen verändert werden? Das lasse sich „nicht pauschal beantworten. Die Höhe der Ablaufleistungen hängt u. a. davon ab, welche Kostenbelastung die Produkthersteller vorsehen, wie die Kosten über die Vertragslaufzeit verteilt werden und zu welchem Zeitpunkt voraussichtlich ein wesentlicher Teil der Angehörigen des Zielmarktes ihren Vertrag vorzeitig beenden werden“.

Da hätten wir wohl besser noch ‚ceteris paribus‘ in die Anfrage formuliert. Wenn bei einem Produkt die Kostenverteilung zu Gunsten der Kündiger geändert wird, müssen die Kosten ja woanders landen, und das wäre dann bei den vertragstreuen Kunden, womit deren Ablaufleistungen in der Tendenz niedriger werden.

Neben der Delegierten Verordnung gibt es auch das VVG, und da hat der Gesetzgeber in § 169 geregelt, dass ein Kunde bei Kündigung einen Rückkaufswert erhalten muss. Warum genügen nach Auffassung der BaFin diese gesetzlichen Regelungen nicht? Auf diese ‚vt‘-Frage antwortet die Aufsicht: „Das Produktfreigabeverfahren und insbesondere die von Ihnen angeführte DV 2017/2358 sind eigenständige rechtliche Regelungen zum Schutz der Kundinnen und Kunden, die von den Produktherstellern zu beachten sind.“ Ja, es gibt diverse Regelungen. Warum diese nicht genügen und wodurch die BaFin sich ermächtigt sieht, den Produktgebern ergänzend zu deren Zielmarktdefinition einen weiteren Zielmarkt vorzuschreiben, beantwortet die BaFin nicht.

Die BaFin ist eine selbstständige Anstalt des öffentlichen Rechts und untersteht nach § 2 des Finanzdienst­leistungsaufsichtsgesetzes der Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministeriums der Finanzen. Am 17.05.2022 hatten BMF und BaFin die neu vereinbarten „Grundsätze der Zusammenarbeit“ bekanntgegeben (vgl. ‚vt‘ 21 und 23/22). Diese Grundsätze der Zusammenarbeit zwischen BMF und BaFin sind unter https://www.bafin.de/dok/7854494 abrufbar.

Zur nationalen Regulierung und Standardsetzung durch die BaFin heißt es dort: „Zu Rechtsverordnungen, norminterpretierenden Veröffentlichungen und Allgemeinverfügungen, soweit diese stan­dardsetzenden Charakter haben, leitet BaFin rechtzeitig die Abstimmung mit BMF ein. Ein standardsetzender Charakter ist zu bejahen, wenn im Hinblick auf künftige Aufsichtsmaßnahmen der BaFin für einen oder mehrere Finanzsektoren zur Konkretisierung gesetzlicher Vorgaben grundlegende Anforderungen an das Verhalten von Finanzmarktteilnehmern gestellt werden.“

Dr. Florian Toncar (FDP), Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, hatte dazu erläutert: „Wenn es um Einzelfallentscheidungen gegenüber Finanzmarktteilnehmern geht, hat die BaFin besondere Sachkompetenz. Sie ist näher dran. Dort hingegen, wo losgelöst vom Einzelfall Standards für den Markt gesetzt werden, ist es notwendig, dass BMF und BaFin eng kooperieren.“ Den für die Zielmarktdefinition verantwortlichen Produktgebern einen neuen Zielmarkt aufzuoktroyieren, der zudem in Konkurrenz steht mit dem eigentlichen Zielmarkt ‚Altersvorsorgesparer‘, bei Missachtung Maßnahmen nach § 303 VAG anzudrohen, die über eine Verwarnung die Abberufung von Vorständen bedeuten können, hat u. E. eindeutig standardsetzenden Charakter.

Ob ein Merkblatt dazu der geeignete Weg ist, könnte kritisch hinterfragt werden. Der Weg der Mitteilung ändert aber nichts an der Schärfe und der Tragweite der Forderungen und Androhungen, die Wiens und die BaFin bekanntgeben. Dass das FDP-geführte BMF dem Torpedo der privaten Altersvorsorge zugestimmt hat, können wir uns nicht vorstellen. Vorstellen können wir uns aber, sollte es zur Abberufung von Vorständen kommen, dass Gerichtsprozesse folgen, bei denen dann die Reichweite der Kompetenz der BaFin oder Kompetenzüberschreitung beleuchtet wird.

‚vt‘-Fazit: ++ Bei vielen Lebensversicherungen wäre es angebracht, wenn die Ablaufleistungen der vertragserfüllenden Kunden eine bessere Rendite erbringen würden. Das muss auch bei angemessenen Vergütungen für qualifizierte Beratungs- und Vermittlungsleistungen, die auch einen wichtigen Kundennutzen darstellen, erreichbar sein 

++ Wenn die BaFin bei einzelnen Versicherern  + exzessive Provisionen  + Kosten für Rückvergütungen, denen kein Kundennutzen gegenübersteht oder  + vom Versicherer tolerierten Vertrieb an Kunden, die nicht dem Zielmarkt entsprechen, feststellt, dann sollte sie im Rahmen der Missstandsaufsicht nach § 48a VAG eingreifen 

++ Zu Stornohaftungs­zeiten, Rückkaufswerten und Bestimmung des Zielmarktes haben die Gesetz- und Verordnungsgeber Rechtsregelungen erlassen, die einzuhalten sind. Weitere Regelungen durch die Aufsicht mit Gesetzescharakter bedarf es da nicht. Das diesbezügliche Vorgehen der BaFin stellt einen Eingriff in die Freiheit der Hersteller bei der Zielmarktfestlegung dar, der u. E. unzulässig ist.

Wenn die BaFin hier nicht zurückrudert oder das BMF sich dieses Problems nicht annimmt, dann könnten am Ende Gerichte über eine gesetzgeberähnliche Kompetenz(-Überschreitung) der BaFin entscheiden.

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