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GDV, Rechtsexperten, VU: Gegensätzliche Auffassungen zu BGH-Folgen für GFV

 Unsere Recherchen zum Urteil des Bundesgerichtshofs vom 11.12.2024 (Az.: IV ZR 498/21) haben bisher nicht die erwünschte Klarheit erbracht (vgl. ‚vt‘ 04, 05 und 06/25). Sie fördern aber ganz deutlich zu Tage: Es gibt unterschiedliche, gegensätzliche Rechtsauffassungen! Wir fassen diese für Sie zusammen und kommen dann zu den Antworten von Versicherern. Im Kern geht es darum, ob die VVG-§§ zur Lebensversicherung auf die Grundfähigkeitsversicherungen (GFV) Anwendung finden oder nicht. Denn daraus ergeben sich wichtige Folgen, bspw. ob eine GFV vom Versicherer ordentlich gekündigt werden kann.

Einige Anbieter weisen in den AVB zur Grundfähigkeitsversicherung nur allgemein auf Regelungen des VVG hin, andere Versicherer nennen einen oder mehrere konkrete Paragraphen. Gefunden haben wir in diversen GFV-Bedingungen Hinweise auf § 150, § 153, § 163, § 164, § 165 und/oder § 169 VVG. Doch der BGH urteilt, dass „§ 177 Abs. 1 VVG etwa auf die Grundfähigkeitsversicherung oder die Schwere-Krankheiten-Versicherung unanwendbar“ ist. Das Urteil betrifft eine Unfallkombi-Rente eines Sachversicherers, obiges Zitat tätigt der BGH aber unter Randnummer 40 als allgemeine Aussage ohne Spartenbezug.

Der GDV stellt indes auf die Unfallversicherung und somit auf den Sachversicherungsbereich ab, im Gegensatz dazu handele es sich bei der GFV „um eine Lebensversicherung, für die die Vorgaben der §§ 150 ff. VVG uneingeschränkt gelten. Hieran ändert sich durch das Urteil des Bundesgerichtshofs nichts.“ Das ist eine spannende Auslegung und würde im Prinzip alle aufgeworfenen Probleme lösen. Doch woraus schließt der GDV, dass diese Aussage des BGH unter Rn 40 (und dortigen Verweisen auf diverse VVG-Kommentare) keinerlei Geltung für GFV-Produkte von Lebensversicherern hat? Wir haken beim Versichererverband für Sie nach.

Eine Begründung liefert der GDV nicht, bekräftigt aber: „Bietet ein Lebensversicherer eine Grundfähigkeitsversicherung an, ist diese als Lebensversicherung kalkuliert und für das Produkt gelten die Vorgaben der §§ 150ff. VVG.“ Zugleich räumt der GDV ein: „Der Verband wird sich tiefgehend mit dem Urteil auseinandersetzen.“ Es ist nachvollziehbar, dass ein 33 Seiten umfassendes Urteil mit komplexen Aussagen einer ausführlichen Beleuchtung bedarf, die etwas Zeit in Anspruch nimmt. Aber wenn der GDV das jetzt erst macht, was bedeutet das für dessen Rechtsauffassung?

Zweifel sind angebracht. „Hier sehe ich keinen Bezug zu einer konkreten Sparte. Auch bei den sonstigen Prüfpunkten sehe ich keinen Bezug zu einer bestimmten Sparte“, vertritt Rechtsanwalt Tobias Strübing, Partner der Kanzlei Wirth-Rechtsanwälte, in einer Stellungnahme an ‚vt‘ eine andere Auffassung als der GDV.  „Dafür muss die Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit den Versicherungsfall unmittelbar auslösen, weshalb § 177 Abs. 1 VVG etwa auf die GFV oder die SKV nicht anwendbar ist“, erläutert Rechtsanwalt Kai-Jochen Neuhaus /Dortmund auf LinkedIn und folgert: „In der GFV, SKV oder ähnlichen (neuen) Versicherungstypen kann also grundsätzlich die ordentliche Kündigung in den AVB vereinbart werden.“

„Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen – Den Vorhang zu und alle Fragen offen“, könnten wir, wie in Bertolt Brechts ‚Der gute Mensch von Sezuan‘ Ihnen entschuldigend für die ausbleibende Lösung zurufen. Doch es geht um Klarheit und Rechtssicherheit für Versicherungsnehmer und in der Haftung stehende Versicherungs­makler. Für Matthias Helberg, Inhaber der Matthias Helberg Versicherungsmakler e.K./Osnabrück, geht es letztlich um solche Fragen wie: ++ Steht dem Kunden eine Überschussbeteiligung zu (§ 153 VVG)? ++ Muss der Kunde eine Erhöhung der Gefahr mitteilen (§ 158 VVG)?  ++ Können Anbieter einer GFV eigenständig + die Prämie, also den Garantiebeitrag (§ 163 VVG) oder + die Versicherungsbedingungen ändern (§ 164 VVG)? ++ Ist Anbietern einer GFV die ordentliche Kündigung eines Vertrags versagt, weil sie die Rechte nach § 163 und § 164 haben? Und wenn sie diese Rechte nicht haben – können sie dann ordentlich kündigen? ‚vt‘ hat Versicherer und Rückversiche­rer um Stellungnahmen gebeten, u. a. zu: ++ Wirkt sich diese Urteil hinsichtlich der Anwendbarkeit der §§ 150–170 VVG auf die GFV (zu Gunsten oder zum Nachteil des Kunden) aus?  ++ Sind Lebensversicherer berechtigt, eine ordentliche Kündigung von GFV-Verträgen auszusprechen? Wenn nein, warum nicht?  ++ Ist die Grundfähigkeitsversicherung eine Arbeitskraftabsicherung? ++ Sollten Versicherungsvermittler bei der Beratung von Kunden die GFV als ‚Alternative zur BU‘ bezeichnen? Kommen wir nun zu einigen Antworten der Versicherer:

++ Allianz Lebensversicherungs-AG: „Wir haben das Urteil zur Kenntnis genommen. Wir prüfen derzeit das Urteil und die Urteilsbegründung auf grundsätzliche Wirkungen hin und werden bei unserer Bewertung auch die Einschätzungen von Verbänden und ggf. Einordnungen seitens der Versicherungsaufsicht berücksichtigen. Bereits zum jetzigen Zeitpunkt können wir jedoch ausschließen, dass sich das Urteil zum Nachteil der Versicherungsnehmer einer Allianz KörperSchutzPolice auswirkt.“ 

++ Gothaer Lebensversicherung AG: „Die Gothaer Lebensversicherung AG hat in ihren AVB zur Grundfähigkeiten- sowie zur Schwere-Krankheiten-Versicherung keine Regelungen über das Bestehen eines ordentlichen Kündigungsrechts durch den Versicherer vorgesehen. Daher hat das Urteil insoweit auch keinerlei Auswirkungen auf die Gothaer Lebensversicherung AG. Im Übrigen betrifft das Urteil nahezu ausschließlich die Sachversicherung. Im Hinblick auf die Produkte des Bereichs der Lebensversicherung hat der BGH unseres Erachtens lediglich die gesetzlich geltende Regelung bestätigt.“

++ Baloise Lebensversicherung AG Deutschland: „Die GFV von Baloise war nicht Gegenstand des Verfahrens und ist nicht betroffen. Es gelten die mit dem Kunden vereinbarten AVB sowie das VVG. Baloise kann nur im Zusammenhang mit einer Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht oder wegen Beitragsrückständen kündigen. Änderungen bei den Regelungen zur Kündigung sind nicht vorgesehen. Durch den Verlust von Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Funktionen, i.d.R. ausgelöst durch Krankheiten, Unfall oder Kräfteverfall, kann es zu finanziellen Einbußen kommen. Eine GFV zahlt Rentenleistungen, um diese Einbußen finanziell auszugleichen. Die GFV kann in Einzelfällen der Arbeitskraftabsicherung dienen, muss es aber nicht. Wir haben die Zielgruppen unseres Grundfähigkeitsproduktes in der Zielmarktbeschreibung dargelegt. Für die Beratung und Dokumentation ist der Makler verantwortlich.“

++ Die Bayerische: „Unsere Grundfähigkeitenversicherungstarife wurden in Anlehnung an die BU entwickelt. Das bedeutet, dass wir die GFV analog zur BU behandeln und die AVB angelehnt an die BU formuliert sind. Die VVG-Regelungen finden entsprechend Berücksichtigung und wurden als vertragliche Regelungen in die AVB übernommen. Wir behandeln die GFV in den AVB analog wie BU. Dementsprechend ist eine ordentliche Kündigung nur für den VN vorgesehen. Für uns als Versicherer ist eine ordentliche Kündigung nicht vorgesehen und auch nicht in den AVB geregelt. Bei der GFV sind die Leistungsauslöser nicht an die Arbeitskraft geknüpft. Dennoch wird auch unsere GFV als eine mögliche Alternative zur BU verkauft.“  

++ Auch Canada Life stellt auf die Sparte Lebensversicherung ab: „Das Urteil wirkt sich nicht auf die Grundfähigkeitsversicherungen sowie die Schwere Krankheiten Vorsorge von Canada Life aus, da Canada Life als Lebensversicherer ohnehin nur Lebensversicherungen vertreibt, auf die §§ 150–170 VVG eh Anwendung finden, so dass ein ordentliches Kündigungsrecht seitens des Versicherers – abgesehen von Fällen des Beitragsverzuges – ohnehin ausgeschlossen ist. Es ist zu beachten, dass es sich bei der AXA Unfallkombirente um eine Unfallversicherung und keine Lebensversicherung handelt. Die Prämien in all unseren Risikoschutz-Tarifen sind fest garantiert – sie können nicht steigen, außer Kunden erhöhen ihren Schutz. Wir verzichten auf die Anwendung des § 163 VVG, und dies bleibt auch so. Dies gilt in unseren Grundfähigkeitstarifen, in der Schweren Krankheiten Vorsorge und auch in unserer Berufsunfähigkeitsversicherung. Wir möchten Kunden dadurch eine besonders gute Planungssicherheit über lange Zeit hinweg bieten.“ Ein ordentliches Kündigungsrecht schließt Canada Life für bestehende und zukünftige Tarife aus: „Wir sind ein Lebensversicherer, und in diesem Sinne sind unsere Grundfähigkeitslösungen und die Schwere Krankheiten Vorsorge konzipiert. Und eine Lebensversicherung kann nicht seitens des Versicherungsunternehmens gekündigt werden, soweit kein Beitragsverzug vorliegt. Wir möchten unseren Kunden Sicherheit geben – und das auf lange Sicht, mitunter auch ein Leben lang.“  

++ Hannoversche Lebensversicherung AG: „Das Urteil und die Auswirkungen auf das Grundfähigkeitsprodukt der Hannoverschen werden derzeit analysiert. Als Lösung zeichnet sich eine entsprechende kundenfreundliche Klarstellung in den AVB ab. Die genaue Vorgehensweise wird aber noch in enger Abstimmung mit den zuständigen Gremien des GDV erarbeitet.“

‚vt‘-Fazit: Weitere Antworten von GFV-Anbietern folgen. Es bleiben offene Fragen und daher machen wir den Vorhang noch nicht zu. Die Beteuerungen der Versicherer, z. B. dass man kein ordentliches Kündigungsrecht sieht, stellen wir nicht in Abrede. Warum die nicht spartenbezogenen ‚Nebenbemerkungen‘ des BGH zur GFV aber nicht relevant sein sollen für GFV-Produkte von Lebensversicherern, bloß weil der BGH-Fall einen Sachversicherer betrifft, hat bisher keiner rechtlich begründet und wird von Rechtsexperten auch anders gesehen.

Es ist zu wünschen, dass die Versicherer-Auffassungen greifen, indes bedarf es Rechtssicherheit. Und dazu gehören auch die Auslegungen und Erwartungen der Rückversicherer. Wenn sich bei einem Tarif häufiger Leistungsfälle einstellen als kalkuliert, wenn sich zeigen sollte, dass durch höheres Alter oder Beruf die Eintrittswahrscheinlichkeit des Leistungsfalls höher wird, aber der Versicherer trotz Recht auf ordentliche Kündigung darauf verzichtet – halten da die Rückversicherer still? Auch da bleiben wir für Sie am Ball!

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