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BGH entscheidet bei Betriebsschließungsversicherung gegen VN

Die Rechtsprechungsübersicht zur Betriebsschließungsversicherung von Coco Mercedes Tremurici, Referendarin am Kammergericht Berlin und Wiss. Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin (vgl. ‚vt‘ 34/21), listet mit Stand 10.01.2022 insgesamt 303 Urteile und Beschlüsse zahlreicher Land- und Oberlandesgerichte auf. Die allermeisten Entscheidungen verneinen den Versicherungsfall. Wenn es bei einem Fußballspiel zur Halbzeit 10:1 steht, ist dem in Führung liegenden Team der Sieg nicht mehr zu nehmen. Bei Gerichtsentscheidungen ist das anders, da kann ein einziges ‚Tor‘ das ‚Match‘ kippen. Zumal selbst identische AVB völlig gegensätzlich beurteilt wurden (vgl. ‚vt‘ 44/20).

Daher wurde eine erste Entscheidung des Bundesgerichtshofs trotz des klaren Vorsprungs der Versicherer mit großer Spannung erwartet. Doch das Verfahren endete mit einer großen Enttäuschung für betroffene Policenbesitzer und so manchen Vermittler: Der BGH hat mit Urteil vom 26.01.2022 (Az.: IV ZR 144/21) entschieden, dass dem Versicherungsnehmer bei den zugrunde liegenden Versicherungsbedingungen keine Ansprüche aus seiner Betriebsschließungsversicherung wegen der Corona-Pandemie bedingten Gaststätten-Schließung zustehen. Denn COVID-19 wird unter den meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserregern nicht aufgeführt.

In § 2 Nr. 2 Buchst. a und b ZBSV 08 wird geregelt: „Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger im Sinne dieser Zusatzbedingungen sind die folgenden, im Infektionsschutzgesetz in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger: Krankheiten: (…) Krankheitserreger: (…)“ Die Klage war in den Vorinstanzen (Landgericht Lübeck und Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht) erfolglos geblieben. Der BGH hat die Revision zurückgewiesen. Dabei entzog er der von diversen Versicherern bzw. deren Rechtsanwälten aufgebauten Verteidigungslinie ‚intrinsische Gefahr‘ den Boden.

Der Eintritt des Versicherungsfalls setze „nicht die Verwirklichung einer aus dem Betrieb selbst erwachsenden, sogenannten intrinsischen, Infektionsgefahr voraus“ (alle Angaben und Zitate beziehen sich auf die BGH-Pressemitteilung, das schriftliche Urteil liegt noch nicht vor). Somit tritt der Versicherungsfall auch dann ein, wenn flächendeckend angeordnete Schließungen, wie durch die Allgemeinverfügungen, vorliegen. Das ist zwar durchaus ein wichtiger Matchpunkt für VN, doch er verhilft hier nicht zum Sieg.

Denn bei der zugrunde liegenden Police ist ‚Corona‘ nicht vereinbart. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer werde die „umfangreiche Aufzählung von Krankheiten und Krankheitserregern als abschließend erachten“, so der IV. Zivilsenat. Auch spreche der „erkennbare Zweck und Sinnzusammenhang der Klausel ebenfalls für die Abgeschlossenheit des Katalogs“.

Der durchschnittliche VN werde „zwar einerseits ein Interesse an einem möglichst umfassenden Versicherungsschutz haben, andererseits aber nicht davon ausgehen können, dass der Versicherer auch für nicht im Katalog aufgeführte Krankheiten und Krankheitserreger die Deckung übernehmen will, die (…) erst Jahre nach Vertragsschluss auftreten und bei denen für den Versicherer wegen der Unklarheit des Haftungsrisikos keine sachgerechte Prämienkalkulation möglich ist“, so der BGH.

Dass nach Auffassung des BGH der durchschnittliche VN maßgebliche Einflussfaktoren für die Prämienkalkulation kennen muss, ist erstaunlich. Wir gingen und gehen auch weiterhin davon aus, dass dies Aufgabe der Aktuare bzw. der Versicherer ist. Wenn diese hohe Prämienkalkulations-Erwartung an das Verständnis des durchschnittlichen VN eine entscheidende Rolle für das Urteil gespielt hat, wäre das für uns ein grobes Foulspiel des Schiedsrichters BGH. Wir warten daher gespannt auf das schriftliche Urteil.

Ergänzen wir noch zwei weitere Ausführungen des BGH: Die Klausel zur Krankheitserreger-Definition halte „auch der Inhaltskontrolle gemäß § 307 Abs. 1 und 2 BGB stand und verstoße  „insbesondere nicht gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB.“ Dem VN werde „durch die Bedingungen nicht der Eindruck vermittelt, dass jede Betriebsschließung auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes vom Versicherungsschutz erfasst sei“.

Rechtsanwalt Andreas Schmitt von der Sozietät Heuking Kühn Lüer Wojtek sieht folgende Auswirkungen: „Mit der Entscheidung werden die Versicherer deutlich gestärkt in die noch laufenden Auseinandersetzungen mit ihren Versicherungsnehmern gehen. In den allermeisten Fällen sind die Klauseln in den Versicherungsbedingungen zur Betriebsschließungsversicherung mit den Klauseln identisch, über die der BGH zu befinden hatte. Auch in diesen Fällen werden die Instanzgerichte der Einschätzung des BGH folgen und eine abschließende Aufzählung der Krankheiten und Krankheitserreger annehmen müssen. Vielen Klagen wird damit die Grundlage entzogen sein, was für Erleichterung bei den Versicherern sorgen dürfte.“

Schmitt ergänzt: „Dennoch könnte das Thema für die Versicherer nicht gänzlich ausgestanden sein. Insbesondere in den Fällen, in denen die Klauseln in den Versicherungsbedingungen sich von denen unterscheiden, die der BGH geprüft hat, ist der Weg für die Geltendmachung von Ansprüchen aus der Betriebsschließungsversicherung nicht durch das Urteil des BGH versperrt.“

Rechtsanwältin Julia Kathrin Degen, ebenfalls von der Sozietät Heuking Kühn Lüer Wojtek, kommentiert die Entscheidung zur gescheiterten Abwehrargumentation ‚Erreger im Betrieb‘: „Dem Argument der Versicherer, dass eine Betriebsschließungsversicherung nur bei ‚intrinsischen Infektionsgefahren‘ Versicherungsschutz biete, hat der BGH den Boden entzogen. Es kommt jetzt darauf an, welche Versicherungsbedingungen dem Vertrag zugrunde lagen. Die Entscheidung hat enorme Bedeutung für die Versicherungswirtschaft, weil eine Vielzahl der Versicherer die Deckung auch mit dem Argument abgelehnt hatte, dass ‚flächendeckende Betriebsschließungen‘ nicht versichert sein könnten, sondern nur Fälle abgedeckt seien, bei denen der Erreger im Betrieb aufgetreten ist.“

‚vt‘-Fazit: ++ Der BGH hängt die Messlatte für das „Verständnis des durchschnittlichen Versicherungsnehmers“ außerordentlich hoch. Hohe Erwartungen an das Verständnis der durchschnittlichen VN sind dem IV. Zivilsenat des BGH aber nicht fremd. Erst kürzlich hatte er das ‚Silikonfugen-Nässeschäden-Urteil‘ vom 20.10.2021 (Az. IV ZR 236/20) mit u. E. sogar stark überzogenen Erwartungen an den ‚durchschnittlichen‘ VN begründet (vgl. ‚vt‘ 46/21). 

++ Für die vielen betroffenen BSV-Kunden ist das Urteil eine schlechte Nachricht. Eine solche Entscheidung war aber keineswegs auszuschließen, auch wenn es seit Beginn der Leistungsablehnungen viele juristische Auffassungen gab, die den Leistungsfall erkannten, und viele Versicherungsmakler ob des Ablehnungsverhaltens der Versicherer verärgert waren.

Wir haben daher frühzeitig immer wieder „empfohlen, dass Angebote der Versicherer auf Basis der ‚bayerischen Empfehlung‘ individuell geprüft werden sollten und vom VN zu entscheiden ist, ob die Annahme des Angebots sinnvoll ist, und ob ggf. ein versierter Rechtsanwalt eingeschaltet wird, der die Erfolgsaussicht eines Gerichtsverfahrens prüft (…) Das Ab- oder Zuraten der von (erneuten) Schließungen betroffenen Kunden, den Gerichtsweg zu beschreiten, kann für Versicherungsmakler ärgerliche Folgen haben“ (vgl. ‚vt‘ 46/20). Wir haben Sie daher immer faktenbasiert über aktuelle Entwicklungen – egal, ob pro oder gegen VN – informiert und keine Prognosen abgegeben. (Die BGH-Presseinfo kann hier heruntergeladen werden.)

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