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Massenkündigung der Unfall-Kombirenten-Verträge mit Grundfähigkeitsversicherung – Herausforderungen bei der Beratung

Ein Kommentar zu dem Urteil des BGH vom 11.12.2024 – IV ZR 498/21

Ist eine Grundfähigkeitsversicherung eine Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung? Das wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Ein Versicherer kündigte 2018 ca. 18.000 Unfall-Kombirenten-Verträge mit Grundfähigkeitsversicherung von Versicherungsnehmern. Diese Kündigungen hielt die Verbraucherzentrale für unwirksam und klagte dagegen im Unterlassungsklageverfahren. Dem Versicherer sollte es verwehrt sein, sich auf die verwendeten Vertragsklauseln zur Kündigung zu berufen und diese Klauseln in Versicherungsverträgen zu verwenden, mithin die Verträge nicht zu kündigen. Kürzlich hat der Versicherungsvertragsrechtssenat des BGH über diese Frage verhandelt und entschieden.

Folgt man der Auffassung der Verbraucherzentrale und ordnet man den Vertrag über die Unfall-Kombirente mit Absicherung von Grundfähigkeiten als Existenzschutzversicherung ein, eine Art Berufsunfähigkeitsversicherung, wäre ein solcher Vertrag nicht kündbar. Handelt es sich hingegen um eine Unfallversicherung, also eine Art Kompositversicherung, ließe sich ein solcher Vertrag ohne weiteres kündigen.

Der Versicherer hatte als Ersatz den Wechsel in eine Existenzschutzversicherung angeboten. Damit wären deutlich geänderte Konditionen, wie höhere Prämien und geringere Leistungen, insbesondere keine lebenslange Rente verbunden. Geltend gemacht wurde insbesondere, dass der Versicherer bei Abschluss des Vertrages mit der Unfall-Kombirente als günstige Alternative zu einer Berufsunfähigkeitsversicherung geworben hatte.

Ist die Unfall-Kombirente mit Absicherung von Grundfähigkeiten eine Unfallversicherung oder eine Berufsunfähigkeitsversicherung?

Aber wer entscheidet über die Zuordnung? Zunächst einmal entscheidet der Vertrag. Um die Entscheidung zu verstehen, bedarf es eines genaueren Blickes auf dieses spezielle Produkt. Der Versicherer selbst bezeichnet das Produkt als eine eigene Vertragsart. Dieser Vertrag enthält vier Leistungsfälle, die Leistung nach einem Unfall (1), den Leistungsfall der Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit von bestimmten Organen (2), den Leistungsfall bei Verlust einzelner definierter Grundfähigkeiten (3) und den Leistungsfall bei Feststellung einer Pflegestufe gemäß Sozialgesetzbuch (4).

Der BGH weist ausdrücklich darauf hin, dass Umstände der konkreten Fallgestaltung, wie die Kundeninformation und Werbung bei der Prüfung im Unterlassungsklageverfahren nach § 1 UKlaG, außer Betracht bleiben mussten. Keine Rolle spielte daher in diesem Verfahren, ob der Versicherer selbst vor Vertragsbeginn einen Vergleich mit der Berufsunfähigkeitsversicherung vorgenommen hatte.

Der BGH hat zunächst untersucht, ob der Vertrag Möglichkeiten zur Kündigung enthält und diese eine unangemessene Benachteiligung für den Versicherungsnehmer darstellen. Der Vertrag enthält folgende Regelung: „1.3 Wann endet der Vertrag? Der Vertrag zur Unfall-Kombirente endet – in Abweichung zu Ziffer 10.2 AUB 2008 – ohne dass es einer Kündigung bedarf, spätestens mit Ablauf des Versicherungsjahres, in dem die versicherte Person das 65. Lebensjahr vollendet oder nach Zahlung der ersten Rentenleistung.“

Nach 1.3 BB läuft ein Vertrag bis maximal Endalter 65. Die allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB 2008) enthalten danach ergänzende Regelungen. Nach 10.2 AUB 2008 steht im Versicherungsschein eine Vertragsdauer, die sich grundsätzlich verlängern aber auch unter Einhaltung von Kündigungsfristen in Schriftform gekündigt werden kann. Der Vertrag räumt somit die Möglichkeit der ordentlichen Kündigung grundsätzlich ein. Es werde für einen „durchschnittlichen Versicherungsnehmer“ hinreichend deutlich, so der BGH, dass bei einer Unfall-Kombirente, abweichend von einer Berufsunfähigkeitsversicherung, die Möglichkeit zur Kündigung besteht. Das sei klar und verständlich und verstoße nicht gegen das Transparenzgebot.

Kündigung des Unfall-Kombivertrages mit Grundfähigkeitsversicherung gesetzlich ausgeschlossen?

Zudem wurde geprüft, ob der Vertrag gegen das gesetzliche Leitbild einer Berufsunfähigkeitsversicherung verstößt. Bei einer Lebensversicherung ist die ordentliche Kündigung ausgeschlossen. Auf die Berufsunfähigkeitsversicherung sind die Regelungen zur Lebensversicherung §§ 150- 170 VVG über § 176 VVG anwendbar. Ein Ausschluss des Kündigungsrechts für eine Lebens- bzw. Berufsunfähigkeitsversicherung ergibt sich zwar nicht originär aus dem VVG.

Der Ausschluss des Kündigungsrechts wird jedoch abgeleitet von dem durch §§ 163, 164 VVG eingeräumten Recht des Versicherers während der Laufzeit des Vertrages Prämien und Versicherungsbedingungen anzupassen. Im Umkehrschluss soll es dem Versicherer verwehrt sein, den Vertrag ordentlich zu kündigen. So wird auch dem Vertragszweck Rechnung getragen, dass mit steigendem Alter das Risiko zunimmt, das gerade durch den Vertrag abgesichert sein soll.

Ein solcher Vertrag soll jedoch mangels Anpassungsrecht des Versicherers bei der Unfall-Kombirente nicht vorliegen, so der BGH. Auch sei der Vertrag nicht nach Art einer Berufsunfähigkeitsversicherung geschlossen. Denn bezweckt sei nicht, dass eine Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit unmittelbar den Versicherungsfall auslöst. Vielmehr sei ein Versicherungsfall etwa ganz konkret auch in der Grundfähigkeitsversicherung oder einer Schwere-Krankheiten-Versicherung allenfalls faktisch an die Arbeitsfähigkeit gekoppelt, nicht aber unmittelbar.

Der Versicherungsfall wird durch die Beeinträchtigung der körperlichen Integrität ausgelöst. Dies gilt für alle vier durch die Police abgesicherten Leistungsfälle. Von dem Verlust berufs- oder erwerbsbezogenen Fähigkeiten, wie in einer Berufsunfähigkeitsversicherung, seien die Leistungsfälle dagegen nicht abhängig. Somit, so der BGH, ist die Ausgestaltung des Vertrages nach Art einer Unfallversicherung vorgenommen. Die Kündigungen der Verträge waren im Ergebnis rechtmäßig.

Fazit

In der Beratung zur Grundfähigkeitsversicherung ist (nun) Vorsicht angesagt. Es ist ein Produkt eigener Art und je nach Ausgestaltung eher mit einer Unfallversicherung vergleichbar. Lippenbekenntnisse von Versicherern zur Unkündbarkeit ihrer Verträge bringen keine Sicherheit. In der Regel sind diese nicht rechtsverbindlich und lediglich Absichtserklärungen. Der BGH hält eine ordentliche Kündigung von Grundfähigkeitsversicherungen ebenso wie Schwere-Krankheiten-Versicherungen (Dread Desease) für nicht ausgeschlossen.

Dafür, dass diese Einschätzung auf die Unfall-Kombirente begrenzt sein könnte, fehlt es an Anhaltspunkten. Für den hier entschiedenen Fall, einer Unfall-Kombirente, hat der BGH jedenfalls die Kündbarkeit bestätigt. Nicht entschieden wurde über die Frage, ob individualvertraglich oder spartenbezogen davon abweichende vertragliche Regelungen beispielsweise von Lebensversicherern getroffen werden können und wirksam wären.

Die ausdrückliche Erklärung eines Versicherers zum Ausschluss einer ordentlichen Kündigung während der Laufzeit des Vertrages über eine Grundfähigkeitsversicherung (Verzichtserklärung) dürfte wirksam sein und zur Klarstellung beitragen, aber man achte auf die genaue Formulierung!

Rechtsanwältin Kathrin Pagel, Fachanwältin für Versicherungsrecht, Partnerin der Kanzlei Michaelis Rechtsanwälte, ist Volljuristin sowie Assessorin der Biologie und Chemie in Personalunion und verfügt über fundierte vertiefte Kenntnisse im Versicherungsrecht und Maklerrecht gepaart mit mehr als 20 Jahren Berufs- und Praxiserfahrung. Sie berät und vertritt regelmäßig Versicherungsnehmer und mittelständische Maklerunternehmen außergerichtlich und gerichtlich. Rechtsanwältin Pagel ist Spezialistin der Berufsunfähigkeitsversicherung und kommentiert zur Feuerversicherung im Praxiskommentar zum Versicherungsvertragsgesetz Schwintowski/Brömmelmeyer/Ebers. Rechtsanwältin Pagel publiziert regelmäßig in verschiedenen Fachmedien und ist als Referentin tätig.

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