Versicherungsmakler Matthias Helberg, Inhaber der Matthias Helberg Versicherungsmakler e. K./Osnabrück, beleuchtet in einem aktuellen Blogbeitrag (https://tinyurl.com/5ef2tsya) ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom 11.12.2024 (Az.: IV ZR 498/21). Der BU-Experte Helberg wirft dabei brisante Fragen auf, die wir für Sie vertiefen wollen: Bei dem am 10.01.2025 veröffentlichten Urteil geht es um eine ‚Unfall-Kombirente‘. Diese Unfallrentenversicherung der AXA Versicherung AG beinhaltet auch Leistungen bei dem Verlust von Grundfähigkeiten, bei Eintritt einiger schwerer Krankheiten sowie Pflegebedürftigkeit.
Nachdem die AXA 2019 rund 8.000 Kunden die Kündigung ausgesprochen hatte, wurde sie von der Verbraucherzentrale Hamburg (VZHH) verklagt. „Die Verbraucherzentrale hatte damals argumentiert, der Versicherer habe die ‚Unfall-Kombirente‘ quasi als Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) angepriesen. Eine BU dürfe ein Lebensversicherer aber nicht ordentlich kündigen. Daher müsse das auch für die ‚Unfall-Kombirente‘ der AXA gelten – obwohl es sich dabei um eine Versicherung eines Sachversicherers handelte“, erläutert Helberg. Nachdem das Landgericht Köln die Klage der VZHH 2021 abwies und in der Berufung das Oberlandesgericht Köln ihr im selben Jahr Recht gab, war die Revision der AXA beim BGH erfolgreich: Das OLG-Urteil wurde aufgehoben.
„In Verträgen über eine Unfall-Kombirente, in denen der Versicherer eine Leistung nach einem Unfall, nach definierter Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit bestimmter Organe oder der körperlichen und geistigen Fähigkeiten als Folge einzelner Krankheiten oder durch Unfall, bei Verlust einzelner Grundfähigkeiten und nach Feststellung einer Pflegestufe gemäß Sozialgesetzbuch verspricht, verstößt die Vereinbarung eines Rechts des Versicherers zur ordentlichen Kündigung in Nr. 10.2 Abs. 2 und 4 AUB 2008 nicht gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB und benachteiligt den Versicherungsnehmer nicht unangemessen im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB“, formuliert der BGH im Leitsatz. Soweit zur Unfall-Kombirente. Doch der BGH äußerst sich unter Randnummer 40 auch zur Grundfähigkeitsversicherung (GFV) und zur Schwere-Krankheiten-Versicherung (SKV):
„Gemäß § 177 Abs. 1 VVG sind die §§ 173 bis 176 VVG und damit kraft der Verweisung in § 176 VVG auch die §§ 163, 164 VVG auf Versicherungsverträge entsprechend anwendbar, bei denen der Versicherer für eine dauerhafte Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit eine Leistung verspricht. Erfasst wird nach dem Willen des Gesetzgebers eine ‚kleine Berufsunfähigkeitsversicherung‘, deren Leistungspflicht erst bei Erwerbsunfähigkeit des Versicherungsnehmers einsetzt. Dafür muss die Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit den Versicherungsfall unmittelbar auslösen. Deshalb ist § 177 Abs. 1 VVG etwa auf die Grundfähigkeitsversicherung oder die Schwere-Krankheiten-Versicherung unanwendbar. Ebenso liegt es bei der Unfall-Kombirente. Keiner der vier in Nr. 1.1.1 BB U-Kombirente genannten und in den Nr. 2 bis 5 BB U-Kombirente näher beschriebenen Leistungsfälle knüpft unmittelbar an eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit des Versicherten an.“
Versicherungsmakler Helberg zeigt die Brisanz für Produkte wie GFV und SKV auf: „Laut BGH sind die im VVG enthaltenen Regelungen zur BUV (§§ 172 bis 177) nicht auf die Grundfähigkeitsversicherung, Dread-Disease-Policen und Multifunktionsrenten wie die ‚Unfall-Kombirente‘ anwendbar. In diesen Paragrafen befinden sich aber nicht nur Vorschriften zur Befristung von Leistungs-Anerkenntnissen und zur Leistungseinstellung. Auch die Anwendung der gesamten §§ 150 bis 170 VVG – also der Regelungen zur LV – ist betroffen. Denn auf diese Paragrafen bezieht sich § 176 VVG. Die VVG-Regelungen zur LV sind laut BGH auf Grundfähigkeitsversicherungen und Dread-Disease-Policen unanwendbar. Was gilt denn dann für sie?“
RAin und Fachanwältin für Versicherungsrecht Kathrin Pagel, Partnerin in der Kanzlei Michaelis, ordnet das BGH-Urteil für Sie ein: „Der BGH schraubt die Anforderungen an einen durchschnittlichen Versicherungsnehmer höher: ‚Er (der VN) geht nach Lektüre dieser Klausel nicht davon aus, zeitlich unbeschränkt Versicherungsschutz zu erhalten. Vielmehr entnimmt er Nr. 10.2 Abs. 1 Satz 1 AUB 2000 und AUB 2008, dass der Vertrag für eine im Versicherungsschein angegebene Dauer abgeschlossen ist. ...‘ Wie viele Versicherungsvermittler fragen sich wohl derzeit, ob sie eine Grundfähigkeitsversicherung anstelle eines Berufsunfähigkeitsvertrages zur Absicherung der Arbeitskraft vermittelt haben? Nach dem Urteil des BGH vom 11.12.2014 dürfte ein Vertragsschluss über eine solche im Rahmen einer Unfallkombirente dann problematisch sein, wenn der Versicherungsnehmer einen mit der Berufsunfähigkeitsversicherung vergleichbaren Versicherungsschutz erwartet. Jedenfalls dann, wenn sie wie in diesem Fall in Kombination mit einer Unfallversicherung als ein Produkt konzipiert sind. Der BGH hat angedeutet, dass es individualvertragliche Nebenabreden mit dem Versicherer geben kann, wodurch die Grundfähigkeitsversicherung als Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung angeboten wird. Daraus könnte sich im Einzelfall eine besondere Vertragsbindung ergeben. Der BGH urteilt, dass § 177 Abs. 1 VVG etwa auf die Grundfähigkeitsversicherung oder die Schwere-Krankheiten-Versicherung unanwendbar ist. Zur Begründung stellt der BGH darauf ab, dass durch diese Produkte nicht (unmittelbar) Arbeitsfähigkeit abgesichert wird. Nur wenn im Rahmen dieser Versicherungen der dauerhafte Verlust der Arbeitsfähigkeit den Versicherungsfall unmittelbar auslösen kann, wird man § 173–§ 176 VVG ergänzend heranziehen können.“
Mit entsprechenden Folgen, die der BGH in Randnummer 43 aufführt: Der Zweck des § 177 Abs. 2 VVG beschränke sich nicht darauf, „den Vorrang der speziellen Regelungen der §§ 178 ff. VVG in der Unfallversicherung zu regeln. Vielmehr erklärt die Vorschrift schon ihrem Wortlaut nach § 177 Abs. 1 VVG für auf die Unfallversicherung unanwendbar. Das erfasst über die Verweisung in § 176 VVG die in der Berufsunfähigkeitsversicherung anwendbaren Regelungen aus der Lebensversicherung in den §§ 150 bis 170 VVG.“
Rechtsanwalt Kai-Jochen Neuhaus /Dortmund, der im Versicherungsrecht ausschließlich Mandate von Versicherern annimmt, kommentiert das Urteil auf LinkedIn u. a. so: „Über § 177 Abs. 1 VVG und die Verweisung in § 176 VVG sind die gesetzlichen BU-Regelungen und damit auch der Ausschluss einer ordentlichen Kündigung auf Verträge entsprechend anwendbar, bei denen der VR für eine dauerhafte Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit eine Leistung verspricht. Erfasst wird nach dem Willen des Gesetzgebers eine ‚kleine BUV‘. Dafür muss die Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit den Versicherungsfall unmittelbar auslösen, weshalb § 177 Abs. 1 VVG etwa auf die GFV oder die SKV nicht anwendbar ist. Wie aus § 177 Abs. 2 VVG folgt, der u. a. die Unfallversicherung von der Verweisung in Abs. 1 ausdrücklich ausnimmt, ist nicht jede Versicherung, bei der der Versicherungsfall mit einer Beeinträchtigung der Arbeits- oder Erwerbsfähigkeit zusammenfallen kann, den gesetzlichen Regeln der BUV unterworfen.“ RA Neuhaus folgert: „In der GFV, SKV oder ähnlichen (neuen) Versicherungstypen kann also grundsätzlich die ordentliche Kündigung in den AVB vereinbart werden.“
‚vt‘-Fazit: Die Rechtauffassung ist nicht neu und lässt sich mehreren VVG-Kommentaren entnehmen, aber der BGH formuliert es klar und unmissverständlich: § 177 Abs. 1 VVG ist u. a. auf GFV und SKV unanwendbar. Die diversen VVG-Regelungen, die für die Arbeitskraftabsicherung BU gelten, gelten mithin für GFV und SKV nicht. Von einer Alternative zur BU kann also nicht gesprochen werden. Etwas anderes kann sich (nur) durch vertragliche Regelungen ergeben. Doch was gilt für Bestandsverträge mit bisher ‚angenommenen‘ gesetzlichen Regelungen? Haben die LV-Versicherer in den AVB auf ihr ordentliches Kündigungsrecht ausdrücklich verzichtet oder könnten sie nun kündigen? Müssen Versicherungsmakler nun bei jedem Angebot einer GFV oder SKV prüfen, ob der Versicherer auf sein Kündigungsrecht verzichtet und ob bei der GFV die Rente auch 3 Monate weitergezahlt wird, wenn der Versicherer seine Leistung einstellt? Das sind einige der Fragen, die es zu klären gilt und die wir für Sie durchleuchten werden. (Das Urteil kann hier heruntergeladen werden.)
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